Etwas schmerzlich ist es für einen Brunner-Fan1 ja schon, dass das Jahr 2019 zum offiziellen Karl Barth Jahr erklärt wurde. Gestern wurde es in Basel eingeläutet zum 50. Todestag des grossen Theologen und 100 Jahre nach seinem berühmten Römerbrief Kommentar. Schmerzlich nicht, weil Karl Barth es nicht verdient hätte, sondern weil Emil Brunners 50. Todestag vor rund zwei Jahren (2016) beinahe vergessen ging. Erinnert wurden die Schweizer durch den britischen Theologen Alister McGrath und so initiierte das Studienzentrum für Glaube und Gesellschaft in Fribourg eine kurze Tagung zu Ehren des Zürcher Theologen.2 Aber in diesem Artikel geht es mir nicht darum aufzurollen oder zu betrauern, wieso Brunner in Vergessenheit geraten ist, obwohl er zeitweise Karl Barth an Bekanntheit und Einfluss übertraf… Dieses Thema habe ich an anderer Stelle angeschnitten.
Es gibt das berühmte NEIN! des Baslers, das er dem Zürcher entgegen rief (hat sich irgend etwas zwischen Basel und Zürich seit damals verändert?! 😉 ). Es gibt aber auch das weniger bekannte JA, das Barth Brunner sozusagen ins Ohr geflüstert hat. Über dieses NEIN! und dieses JA will ich kurz nachdenken.
NEIN!
Ich würde mir wünschen, dass in diesem Karl Barth Jahr Brunner nicht nur am Rande zu Karl Barths NEIN! erscheint. Dieses war Barths Antwort auf Brunners Schrift Natur und Gnade. Ich wünsche es mir deshalb, weil es leider von einem beschränkten Blick von Brunners Werk und von Ignoranz der besonders emotionalen Umstände dieses NEINs zeugt. Brunner war sich selbst bewusst, dass er in dieser Schrift das eine oder andere unglücklich formuliert hatte, wenn er auch nie dessen Inhalt widerrufen hatte. Spätere Monographien zeigten jedoch klar, dass es ihm nie um eine „natürliche Theologie“ ging. Im Gegenteil, ich behaupte sogar, dass Barth und Brunner trotz Unterschieden in wesentlichen Themen auch nach Brunners „dialektischen Phase“ theologische Weggefährten waren. Ein Beispiel dafür ist ihr Fokus auf Offenbarung und der Beziehung von Gott und Mensch.3 McGrath zeigt sehr schön, dass diese beiden grossen Theologen in dieser Auseinandersetzung aneinander vorbei geredet hatten.4 Barth, als „Prophet“, war zur Zeit des Krieges aufgrund der Deutschen Christen allergisch auf alles was nach natürlicher Theologie roch. Brunner hingegen, als „Systematiker“, war nicht bereit aufgrund der aktuellen Umstände in ein theologisches Extrem zu verfallen. Ihm ging es letztlich nicht um natürliche Theologie, sondern darum, dass die Rolle des Menschen in der Gott-Mensch-Beziehung ernst genommen werden musste. Ihm ging es um etwas, das er später missionarische, oder, moderner ausgedrückt, missionale Theologie nannte:5 Gott kommuniziert und offenbart sich so, dass wir es verstehen. Dazu benutzt er, was er geschaffen hat. Brunners berühmt-umstrittener Anknüpfungspunkt ist also keine „Fähigkeit“ des Menschen Gott zu erkennen, sondern metaphorisch gesprochen ein gottgeschaffener Bootsring im Hafen des Menschen, bei dem Gott in Jesus Christus andocken kann. Die Bewegung ist und bleibt also klar von Gott zum Menschen und nicht umgekehrt. Diese Überzeugung führt jedoch dazu – und das ist meiner Meinung nach der Hauptunterscheid zwischen Barth und Brunner – dass wir als Theologen, Pastoren und Christen die Verantwortung haben verständlich und nahe bei den Menschen zu kommunizieren. Frei nach dem Motto: Mach’s wie Gott, aus Liebe.
Erschwerend kam jedoch bei dieser Auseinandersetzung auch dazu, dass die Beziehung zwischen Barth und Brunner geprägt war durch eine Art Hass-Liebe oder besser gesagt freundschaftliche Feindschaft oder feindliche Freundschaft. Emil Brunner suchte beim dreieinhalb Jahre älteren Barth Bestätigung, dieser hingegen war oft eher ablehnend oder zumindest gleichgültig.6 Deshalb traf Barths NEIN! Brunner mit einer Wucht, die viel umfassender war, als eine blosse theologische Meinungsverschiedenheit hätte sein können. Dieses NEIN! führte zu einem Bruch zwischen den beiden und Brunner litt daran bis zu seinem Tod.7 Dies trifft zu, obwohl Brunner im Jahr 1948 in einer Art Abschiedsbrief an seine Frau vor einer wichtigen Operation folgendes schrieb:8
Gegen Menschen bin ich nicht bitter. Karl Barths Nein wurmt mich nicht mehr und die negativen Urteile der Barthianer oder ihre Indifferenz macht mir wenig mehr zu schaffen.[…] Ich fühle mich meiner Sache sicher; man wird einst kaum mehr verstehen können – barmntlich [sic; namentlich] in Sachen Sozialethik, warum man im Zweifel sein konnte wer von beiden die biblische Wahrheit auf seiner Seite hatte. Andererseits ist mir klar, dass Barth eben wirkt kraft einer Wucht der Persönlichkeit und einer Ganzheit des theologisch verkünderischen Einsatzes, die ich nie erreicht habe, noch je jätte [sic] erreichen können. Ich halte es für richtig, wenn man B für den grösseren Theologen hält – und zwer [sic] weitaus-, auch wenn ich, ich glaube in allen Kontroverpunkten [siv], richtiger sehe als er.
Diese Zeilen zeigen die Spannung, die Brunner empfand, sehr gut und auch, dass er damit – auch nach diesem Brief bis zu seinem Tod 1966 – nie ganz abschliessen und zur Ruhe kommen konnte.
JA
Aber es wäre schade, wenn wir mit Barths NEIN! und Emil Brunners JEIN abschliessen müssten. Glücklicherweise gibt es eine – leider weniger bekannte – Begebenheit am Ende von Brunners Leben, die unter einem bewegenden JA steht. Als Brunner im Jahr 1966 bereits auf dem Sterbebett lag erfuhr Barth davon durch einen ehemaligen gemeinsamen Studenten, Peter Vogelsanger. Da Barth zu dieser Zeit auch bereits gesundheitlich stark eingeschränkt war, schrieb er Vogelsanger folgenden Brief:9
Ihr Brief hat mich sehr bewegt. […] Wenn ich selber nach zweijähriger Krankheit noch oder wieder mobiler wäre, würde ich mich in den nächsten Zug setzen, um Emil Brunner noch einmal die Hand zu drücken. – Sagen Sie ihm, wenn er noch lebt und wenn es geht, noch einmal: „Unserem Gott befohlen!“ auch von mir. Und sagen Sie ihm doch ja, die Zeit da ich meinte, ihm ein „Nein!“ entgegenrufen zu müssen, sei längst vorüber, wo wir doch alle nur davon leben, dass ein grosser und barmherziger Gott zu uns allen sein gnädiges Ja sagt.
Vogelsanger las diesen Brief am Bett von Emil Brunner vor, der bereits nicht mehr ganz bei Bewusstsein war, und es wird berichtet, dass ein schwaches aber schönes Lächeln über sein Gesicht kam und er Vogelsangers Hand sanft drückte. Ein paar Minuten später fiel er ins Koma und starb am nächsten Tag. Dieses göttliche JA und das JA von Barth scheint also das Letzte gewesen zu sein, das Brunner auf dieser Erde mitbekommen hatte. Die Versöhnung hat das letzte Wort – dies hätte Barth auf jeden Fall gefallen!
Footnotes
- Eine "Brunner-Schule" hat es in diesem Sinn nie gegeben. Emil Brunner selbst hat dem eher entgegen gewirkt.
- In Erfahrung gebracht durch persönliche Korrespondenz mit Ralph Kunz von der Uni Zürich.
- Siehe dazu z.B. Meyer zu Hörste-Bührer, Raphaela J. Gott und Menschen in Beziehungen. Dissertation. Neukirchener Theologie, 2015, 114-126. Sie gibt eine gute Übersicht über Barth. Jeden einzelnen dieser Punkte hätte Brunner unterschrieben und hatte er auch oft exakt so geschrieben.
- McGrath, Alister E. Emil Brunner: A Reappraisal. Chichester, West Sussex: Wiley Blackwell, 2016, 90-133.
- Hier wäre es geboten weiter zu erarbeiten ob Brunners Rolle als "Vorvater" in der aktuellen Bewegung einer "missionalen Theologie" nicht sträflich ignoriert wurde und wird.
- Jehle, Frank. Emil Brunner: Theologe im 20. Jahrhundert. Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 2006, 115-116.
- Brunner, Hans H. Mein Vater und sein Ältester: Emil Brunner in seiner und meiner Zeit. Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 1986, 90.
- Brunner, Emil. ‘Für den Fall.’ In Staatsarchiv des Kantons Zürich (StAZH). W I 55 122, 10, 1948. Dieses Material ist meines Wissens bisher noch nicht veröffentlicht worden.
- Bromiley, Geoffrey W., Stoevesandt, Hinrich, and Fangmeier, Jürgen, eds. Karl Barth: Letters, 1961-1968. Edinburgh: T & T Clark, 1981.
Danke! Ich finde das gut erfasst und durch die Anekdoten aus dem Briefverkehr, die mir nicht bekannt waren, schön abgerundet.